Bulimie
Der Begriff Bulimie ist an das griechische “bulimos” angelehnt, was soviel wie “Ochsenhunger” heißt. Hauptmerkmal der Bulimia nervosa sind Kontrollverluste bei der Nahrungsaufnahme ("Essattacken") mit darauffolgenden Maßnahmen, die eine Gewichtszunahme verhindern sollen. Das selbst herbeigeführte Erbrechen als Mittel, das Gewicht wieder zu regulieren, gab der Bulimia nervosa auch den Namen “Ess-Brech-Sucht”, die Bezeichnung ist jedoch irreführend, da zum einen auch andere Maßnahmen zur Gegenregulation eingesetzt werden und zum anderen das Symptom “Erbrechen nach dem Essen” kein hinreichendes Kriterium zur Diagnose einer Bulimie ist. Im Gegensatz zu magersüchtigen sind bulimische Patientinnen und Patienten meist normal- oder idealgewichtig.
- Wie Sie eine Bulimia nervosa erkennen,
- welche möglichen psychischen Hintergründe die Erkrankung hat,
- wie häufig und verbreitet Bulimia nervosa (Epidemiologie) ist,
- wie wir Bulimie behandeln,
- über Besonderheiten der Behandlung bei Bulimia nervosa
erfahren Sie im Folgenden.
Eine komplette Übersicht über die Essstörungen und ihrer Behandlung geben die S3-Leitlinien der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF).
Wie kann man eine Bulimia nervosa erkennen?
Hauptmerkmal der Bulimie sind die Heißhungeranfälle, meist gefolgt von gegenregulatorischen Maßnahmen wie Fasten, Erbrechen, exzessivem Sport etc. Bei einem solchen Anfall werden große Mengen hochkalorischer Nahrungsmittel verschlungen, also fett- und kohlenhydratreiche Esswaren. Auf eine solche Essattacke folgt in der Regel ein tiefes Schamgefühl. Die Betroffenen versuchen meist erfolgreich, die Erkrankung vor Angehörigen und Freunden zu verbergen; die Essattacken finden heimlich statt.
Um von einer Bulimia nervosa zu sprechen, müssen folgende Kriterien erfüllt sein:
Es kommt zu wiederholten Episoden von Essanfällen (mindestens ein Essanfall pro Woche), in denen die Betroffenen große Mengen hochkalorischer Nahrungsmittel zu sich nehmen. Die Menge an Nahrungsmitteln können sie während eines Essanfalls nicht mehr kontrollieren.
Um eine Gewichtszunahme zu vermeiden, greifen die Betroffenen zu drastischen Methoden: Sie erbrechen, missbrauchen Diuretika oder Laxantien (Abführmittel), zwischen den Essanfällen werden rigide Diäten eingehalten oder Fastenkuren durchgeführt, manchmal sind die Betroffenen im Übermaß körperlich aktiv.
Wodurch entsteht eine Bulimia nervosa?
- Unzufriedenheit mit Körper und Figur
Insbesondere Mädchen und junge Frauen hegen den Wunsch abzunehmen, oft beeinflusst durch das gesellschaftlich vermittelte Schlankheits- und Schönheitsideal. Dieser Wunsch ist häufig verbunden mit Diätverhalten (s. u.). Der Wunsch abzunehmen steht für den Wunsch nach mehr Attraktivität. Schlankheit wird als Sinnbild von Gesundheit, Leistung und Erfolg angesehen. - Geringes Selbstwertgefühl
Anders als bei Männern drückt sich bei Frauen eine Selbstwertproblematik häufig in einer Unzufriedenheit mit dem Körper aus und dient somit der Regulierung eines geringen Selbstwertgefühls. - Familiäre Faktoren
Einflüsse aus dem Elternhaus können an der Entstehung einer Bulimie beteiligt sein, z.B. wenn Eltern offen oder nur subtil Körpergewicht und Selbstwert miteinander verknüpfen. Spezifische familiäre Faktoren sind aber mit Vorbehalt zu diskutieren. - Diätverhalten
Häufige Diäten werden als ein wichtiger Faktor in der Entstehung einer Bulimie gewertet. Ein solches Essen nach Plan mit dem Ziel der Gewichtsreduktion wird nicht mehr durch die physiologische, gesunde Wahrnehmung von Hunger, Sättigung, Appetit, Lust und Genuss gesteuert. Natürliche Mechanismen der Nahrungsregulation treten immer mehr in den Hintergrund, im Fall der Bulimie bis hin zu Kontrollverlust und Essattacken. - “Essen” als Ventil
Ein Essanfall kann emotionale Erleichterung verschaffen, kann angstmindernd wirken und eine Ersatzbefriedigung für unerfüllte Bedürfnisse darstellen. Erlebte, drohende oder vorgestellte Kränkungen, die sich vor allem auf Aussehen und Gewicht der Betroffenen beziehen, stehen oft in engem zeitlichen Zusammenhang mit dem Beginn der Erkrankung und können als Auslöser gewertet werden. Auch Trennungen vom Elternhaus, Verluste nahestehender Menschen oder enttäuschende Beziehungserfahrungen können Auslöser der Erkrankung sein.
Häufigkeit und Verbreitung
In den letzten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hat insbesondere die Bulimie in den Industriestaaten der Welt erheblich zugenommen. Da bulimische Patienten ihre Erkrankung in hohem Maße verheimlichen, ist es schwer, die Dunkelziffer zu benennen.
Soweit sich das unter diesen Bedingungen feststellen lässt, ist von einer Häufigkeit von 2 bis 4,5 % in der Risikogruppe der 18- bis 35-jährigen Frauen auszugehen.
Wie wir Bulimie behandeln
Im Gegensatz zu magersüchtigen Patientinnen und Patienten sind bulimische Patientinnen und Patienten meistens normal- oder idealgewichtig. Eine Gefährdung der vitalen Körperfunktionen durch ein zu geringes Gewicht, das eine stationäre Behandlung zwingend notwendig macht, ist also meistens nicht gegeben.
Dennoch gibt es Gründe, die eine stationäre Aufnahme erforderlich machen:
- Schwerwiegende medizinische Komplikationen
z.B. kann es bei der Bulimia nervosa durch häufiges Erbrechen zu vital gefährdenden Elektrolytentgleisungen kommen. - Chronifizierung
Wenn die bulimischen Episoden weitgehend unabhängig von aktuellen Konfliktsituationen auftreten, dann ist ein Automatismus erreicht, der eine stationäre Aufnahme unumgänglich macht. - Begleiterkrankungen, z.B. Diabetes mellitus
Essstörungen wie die Bulimie sind insbesondere bei jungen Frauen mit Diabetes mellitus Typ I keine Seltenheit. Die Betroffenen verhindern den gefürchteten Gewichtsanstieg mit Hilfe einer verringerten Insulin-Dosierung. Das hat jedoch schwere gesundheitliche Folgen. Bei dem Vorliegen einer solchen "Doppelkrankheit" ist ein stationärer Aufenthalt sinnvoll.
Bei der Überlegung, ob eine stationäre Aufnahme angeraten ist, müssen auch der Grad der krankheitsbedingten Isolation der oder des Betroffenen, ihr/sein soziales Umfeld, die Familiendynamik sowie das Vorhandensein weiterer psychosomatischer oder psychiatrischer Störungen bedacht werden.
Wie bei der Behandlung der Magersucht, ist auch nach einem stationären Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik eine ambulante Weiterbehandlung für den Erfolg maßgeblich. Die stationäre Psychotherapie stellt nur den Anfang einer Behandlung dar - die sogenannte initiale Phase in einem Gesamttherapieplan. Neben der psychotherapeutischen Betreuung spielt zur Normalisierung des Essverhaltens die Ernährungsberatung eine wichtige Rolle.
Da bei der Entstehung einer Bulimie das Zusammentreffen vieler unterschiedlicher Faktoren eine Rolle spielt, muss eine Psychotherapie multidimensional ausgerichtet sein, um dem betroffenen Menschen gerecht werden zu können.
Wenn es die Entfernung zum Wohnort zulässt, kann eine tagesklinische Phase gegen Ende der Behandlung sinnvoll sein, um die hier gemachten Erfahrungen vermehrt auch in den Alltag übertragen zu können.
Besonderheiten der Behandlung bei Bulimia nervosa
Für bulimische Patientinnen und Patienten ist die Festlegung eines Basisgewichts sinnvoll. Diätverhalten stellt einen kausalen Faktor für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Bulimie dar. In der Mehrzahl geht der Bulimia nervosa ein Diätverhalten mit dem Ziel einer Körpergewichtsreduktion voraus. Unabhängig von der physiologischen Wahrnehmung von Hunger, Sättigung und psychischer Appetenz erfolgt die Regulation der Nahrungsaufnahme aufgrund einer der Schlankheitsnorm entsprechenden kognitiven ("kopf-gesteuerten") Kontrolle. Quantität, Qualität und zeitliche Strukturierung der Nahrungsaufnahme werden unabhängig von physiologischen internen Signalen vorausgeplant. Natürliche Mechanismen der Nahrungsregulation treten zunehmend in den Hintergrund. Zahlreiche Untersuchungen konnten belegen, dass gezügeltes Essverhalten unter bestimmten Bedingungen zu einem unkontrollierten Konsum größerer hochkalorischer Nahrungsmengen führt.
Ein weiteres Therapieziel bei dieser Patientengruppe ist die Entwicklung körperbezogener selbstfürsorglicher Verhaltensweisen, welche schädigendes bulimisches und/oder anorektisches Essverhalten in Krisensituationen zunehmend ersetzen.